Einzig der Sport scheint die Massen massenhaft zu bewegen. Nach einer Umfrage des Emnid-Institutes verfolgten 85% aller bundesrepublikanischen Männer und 69% aller bundesrepublikanischen Frauen 1966 das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft zwischen einer englischen und deutschen Auswahlmannschaft. Zu diesen insgesamt 77% der Bevölkerung kamen weitere 8%, die mangels eines Fernsehgerätes auf einen Rundfunkempfänger verwiesen waren.
Der Deutsche Fußballbund zählte Mitte 1969 2,73 Millionen Mitglieder. An jedem Wochenende nahmen in der Bundesrepublik zu dieser Zeit 85.000 Mannschaften am Spielbetrieb der Fußball-Ligen teil. Ihnen standen dabei 35.000 ausgebildete Schiedsrichter zur Verfügung, die unentgeltlich ihr Amt versahen. Dem Internationalen Fußballverband (FIFA) gehören die Fußballverbände von 130 Staaten an, bei denen 1969 ungefähr 18 Millionen Spieler registriert waren.
In der Bundesrepublik locken an jedem Wochenende neun Bundesligaspiele 200.000 bis 300.000 Fußballzuschauer ins Stadion. Die Organisation des Spielbetriebes kostete allein bei den bundesdeutschen Amateurfußballern 1966 pro Spieltag 4,75 Millionen DM.
»Kaum eine übernationale Gesamterscheinung der gegenwärtigen Zeit verdient so sehr eine soziologische und psychologische Durchleuchtung als der an Umfang und Wertschätzung unermeßlich gewachsene Sport. Und doch ist bisher nur sehr wenig Ernstliches zur Deutung des gewaltigen Phänomens versucht worden.«
Das stellte Max Scheler 1927 fest; es gilt noch heute. Diejenigen, die ihre theoretische Arbeit an die Emanzipation der Massen binden, scheinen weniger Problembewußtsein zu besitzen als der konservative Ordinarius zur Weimarer Zeit: Daß die Massen mehr denn je vom Sport besessen sind, nötigt die »kritische« Intelligenz kaum zur Anstrengung des Begreifens. Auch ihr Verhältnis zum Sport scheint weniger von kritischen Reflexionen als von blinden, von irrationalen Verhältnissen verformten Emotionen bestimmt zu sein.
Entweder geht die »Aufklärung« selbst zum Fußballplatz und ist an die Sportschau des Fernsehens fixiert oder sie diskriminiert das Bemühen um die ernsthafte Analyse des Sports. Wer eine kritische Analyse von Aspekten des Phänomens Fußballsport versucht, ist deshalb weitgehend auf Vermutungen angewiesen, die den »offiziellen« Standards von Wissenschaftlichkeit kaum zu genügen vermögen. Diese Arbeit kann nur Vorarbeit für exaktere Analysen sein.
Eine weitere Durchdringung der Tatbestände würde erfordern, daß manche der hier notwendigerweise in grober Form vorgetragenen Thesen so spezifiziert würden, daß sie, soweit wie möglich, einer detaillierten empirischen Überprüfung unterzogen werden könnten. Im folgenden wird versucht, einige Aspekte des von Vereinen und Verbänden organisierten westeuropäischen Fußballsports einer vorläufigen Interpretation zu unterwerfen.
Auf die Behandlung des Fußballsportes in den osteuropäischen Ländern soll hier ebenso verzichtet werden wie auf die der Sportart in den außereuropäischen Ländern, obwohl man annehmen darf, daß dort ähnliche Strukturen vorhanden sind. Die einzelnen Passagen dieses Bandes unterscheiden sich nach Abstraktionsniveau und damit Schwierigkeitsgrad. Bestimmte, schwer verständliche Textstellen sollten nicht von der weiteren Lektüre abschrecken; es bieten sich andere Einstiege in den Zusammenhang der Argumentation an, auf die das gegliederte Inhaltsverzeichnis hinweist
Gerhard Vinnai, Bremen 1970
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