Fussballsport als Ideologie

Vorwort der Herausgegber

Jeder der einem Fußballspiel - sei es am Spielfeldrand selber, sei es am Fernseh oder am Rundfunkgerät - beiwohnt, wird leicht gewahr, wenn er sich ein wenig Distanziertheit und Reflexionsfähigkeit bewahren kann, daß es sich wohl nur zum geringsten um eine bloß »sportliche Veranstaltung« handelt.

Vielmehr weisen das rhythmische An- und Abschwellen der anfeuernden oder enttäuschten Stimmen der in den höheren Spielklassen nach zehntausenden zählenden Zuschauer, die Fanfarenstöße, das Fahnengeschwenke darauf hin, daß die auf dem Fußballplatz und während der Übertragung vor den Fernseh- und Rundfunkgeräten in Massen zusammengefaßten Menschen kollektiv besonders geartete Affekte ausleben und andere zugleich in sich ersticken. Die Rolle des sachkundigen Zuschauers, der das Spiel vom Standpunkt fairer Einhaltung und geschickter Ausnutzung seiner Regeln begutachtet, tritt gegenüber dem massenpsychologischen Phänomen zurück.

Massenveranstaltungen wie die fußballsportlichen erzeugen und steuern zugleich in bestimmter Richtung Massenverhaltensweisen. Sie sind Kanalisierung und Abreaktion von Aggressivität, Pervertierung dessen, was Massen zu sich selber bringen könnte, nämlich kollektives solidarisches Handeln. Sportveranstaltungen, wie sie in der gegenwärtigen Gesellschaftsformation durchgeführt - und von Verhaltensforschern wie Konrad Lorenz als Sozialtherapie lebhaft empfohlen werden, sind Organisation menschlicher Unmündigkeit und Frustration in Permanenz.

So bemerkt Gerhard Vinnai treffend zu seinem Buch: »Die Tore auf dem Fußballfeld sind die Eigentore der Beherrschten.« Daß kollektive und individuelle Aggressivität, erzeugt durch langandauernde Unterdrückung und systematische Ausbeutung, Ausdrucksform verhinderter und pervertierter Solidarität sein kann, hat Frantz Fanon in seinem Buch »Die Verdammten dieser Erde«, der Analyse des algerischen Revolutionsprozesses überzeugend nachgewiesen: In den jahrhundertelang durch Feindschaft und Krieg voneinander getrennten und gegeneinander isolierten Bevölkerungsgruppen schlug Aggressivität im Befreiungskampf gegen den sie auszehrenden Kolonialismus in gemeinsames solidarisches Handeln um. In bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen ist Aggressivität durchaus die Erscheinungsform deformierter Spontaneität, Produktivität und Solidarität.

Wir wissen heute, daß in den hochindustrialisierten und spätkapitalistischen Ländern Solidarität im Sinne des Emanzipationskampfes sich ungleich schwerer herstellt als in der Dritten Welt. Gerhard Vinnais nicht wertfreie, sondern ideologiekritische, politisch-ökonomische und sozialpsychologische Analyse des Fußballsports unter dem Gesichtspunkt institutionalisierter Verhinderung selbstbewußt und solidarisch agierender Massen erhellt die Formen hier und heute gegenwärtiger Unterdrückung. Jene Veranstaltungen sind Bestandteil eines Systems, das die abhängigen Massen immer stärker apathisiert, manipuliert und fragmentiert, so daß sie kaum noch in der Lage scheinen, Emanzipationsbewegungen als kollektive, klassenbewußte Lernprozesse einzuleiten.

Immer dringlicher, scheint uns, wird in den hochentwickelten spätkapitalistischen Industriestaaten das Bedürfnis, die klassischen sozialistischen Strategien der Enteignung und Vergesellschaftung durch Kommunikationsstrategien, d. h. Strategien der »Reform des Bewußtseins« (Marx) und der Revolutionierung der bürgerlichen Verkehrsformen zu ergänzen.

Diese Lehre jedenfalls können wir aus der vorliegenden Untersuchung des Fußballsports ziehen. Vielleicht darf sogar in den entwickelten Industriestaaten eine kulturrevolutionäre Kommunikationsstrategie zur kritischen Umwälzung der Innerlichkeit und zur Veränderung bürgerlich-kapitalistischer Verkehrsformen den Rang eines Führungssystems beanspruchen.

Hannover, im März 1970
Alfred Krovoza
Thomas Leithäuser

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