Die Beherrschung des Balles (die Ballannahme, das gerichtete Treten bei der Ballabgabe oder das Dribbeln) stellt an die Fußballspieler hinsichtlich der Körperbeherrschung hohe Anforderungen, die durch schlechte Witterungs- und Platzverhältnisse noch gesteigert werden können. Diese primären Schwierigkeiten werden dadurch verstärkt, daß die Spieler nicht nur die Lederkugel unter Kontrolle halten müssen: Sie müssen sich gleichzeitig auch auf die
Aktionen ihrer Teamkameraden und die ihrer Gegner einstellen, wobei letztere oft unberechenbar sind. »Ein Fußballwettspiel ist nicht ein kontinuierlich ablaufendes Ganzes wie das Radrennen oder der Wettlauf: vielmehr gibt es eine Ausgangsposition, eine Spiel- und Situationsentwicklung, eine sich steigernde Spannung und eine Lösung.«1 Wegen dieser Schwierigkeiten steckt in jedem Wettkampf für den Aktiven das Risiko des eigenen Versagens, welches die Verbannung aus der Mannschaft und die Mißgunst des Publikums zur Folge haben kann.
Da die Fußballspieler Charakterstrukturen aufweisen, die der oben geschilderten Archaik ihres Sports - die allerdings höchst zeitgemäß verkleidet ist - entsprechen, suchen sie diese Bedrohung mit Hilfe magischer Praktiken abzuwenden. Sie sollen die Portion Glück, die zu manchen Erfolgen auf dem Fußballplatz gehört oder zu gehören scheint, auf die eigene Seite zwingen. Die meisten Athleten haben die Gewohnheit, irgendein Amulett oder einen Talisman mit sich herumzutragen. Dies geschieht nicht nur in scherzhafter Weise wie die folgenden Spieleräußerungen zeigen, die auf die Existenz verwandter Formen des Aberglaubens verweisen.
Ein Spieler der obersten Spielklasse: »Wenn unsere Mannschaft ein Spiel gewonnen hat, dann fällt es mir schwer, meine Schuhe zu putzen. Vielleicht wasche ich den nächsten Sieg ab und schmiere mein Schußglück zu.« Ein anderer äußert vor Spielbeginn: »Heute klappt es, auf Anhieb habe ich sechs Kopf balle geschafft.« Ein Nationalspieler: »Wenn es nach mir ginge, würde ich in jedem Spiel die Kleidung tragen, mit der ich in der Vergangenheit die größten sportlichen Erfolge erzielt habe. Schon wenn die Hemden gewaschen werden, verlieren sie den Glanz unseres Sieges.«
Diese animistischen Denkmodelle sind nicht nur bei einzelnen Spielern anzutreffen, sondern sie prägen mitunter, wie das folgende Zitat zeigt, das Bewußtsein eines gesamten Teams. Ein Spieler berichtet: »Wir fahren zum Spiel meist mit dem Bus. Nun hat sich in unserer Mannschaft folgende Haltung durchgesetzt. Wenn wir zu einem Spiel fahren und unter einer Eisenbahnbrücke durchfahren müssen, über die gerade ein Zug fährt, dann steht es schlecht für uns. Alle denken, daß wir nun auch vom Gegner überrollt werden.«
Allen diesen Äußerungen liegt die Vorstellung zugrunde, daß eine allmächtige übermenschliche Instanz den Sieg zu bescheren vermag, der gegenüber es sinnlos ist, sich als autonomes Wesen zu verhalten. Zugleich setzt diese Vorstellung eines Schicksals mit quasipersönlicher Individualität die Furcht vor bestimmten Prozessen herab, wenn man die Entschlüsse dieser Instanz nur rechtzeitig an bestimmten Konstellationen der Realität abzulesen vermag oder sie gar durch bestimmte Maßnahmen beeinflussen kann.
Die Neigung zum magischen Empfinden ist ein Symptom der gesellschaftlich verordneten Regression unter den Verhältnissen des Spätkapitalismus. Sie wurzelt »in der Haftfähigkeit der ersten Identifikationen, d. h. im Fortleben dieser zu frühen Lebensabschnitten gehörenden magischen Erfahrungsweisen«.3 Das Schicksal wird von den Menschen, die zur Unmündigkeit verurteilt sind, als Ersatz der Elterninstanz angesehen.
Sie eignen sich diese Erfahrungsweise an, indem sie lernen, den entfremdeten Apparat, der ihnen in allen sozialen Bereichen mit einem zwingenden Herrschaftsanspruch entgegentritt, als Elterninstanz zu empfinden, die das eigene Geschick bestimmt, ohne daß dagegen Widerstand möglich ist. »Was in der zum Produkt geronnenen Welt vergessen ward, ihr Produziertsein durch Menschen, wird abgespalten, verkehrt erinnert, als ein Ansichseiendes dem Ansich der Objekte hinzugefügt und gleichgestellt.«4 Die Neigung zu irrationalem Denken und Handeln zeigt sich beim Sport oder auch noch bei dem mit dem Fußballbetrieb verbundenen Toto, wo das Schicksal aus allen materiellen Nöten befreien soll, von relativ harmloser Seite. Als Voraussetzung einer Katastrophenpolitik zeigt sie ihre ganze Gefährlichkeit.
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