Sport als soziales Phänomen ist dem zuzurechnen, »was man mit dem abscheulichen Ausdruck Freizeit bedacht hat, der ebenso die Abhängigkeit jener Sphäre von der Arbeitssphäre ausdrückt wie ihre Ohnmacht«. Seine universelle Verbreitung ist an die Entstehung der Freizeitsphäre auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte gebunden.
»Erst als die rationale Organisation der Arbeit und deren Mechanisierung als kalkulierte Arbeitsteilung und die Übertragung der Arbeit von Menschen auf Maschinen einen Stand erreichten, der die extensive Steigerung der Produktion durch die intensive ablöste, verringerte sich der gesellschaftlich notwendige Aufwand an Arbeit und damit auch: die Arbeitszeit.«
Der damit einsetzende Trend zur Verkürzung des Arbeitstages, der Arbeitswoche, des Arbeitsjahres und schließlich des Arbeitslebens, also der Trend zum Achtstundentag, zum verlängerten Wochenende, zum garantierten Jahresurlaub und zur Abschaffung der Kinderarbeit läßt einen von industrieller Arbeit freien Bereich entstehen, in den der Sport eindringen kann.
England, das Mutterland des industriellen Kapitalismus, ist auch das Mutterland des modernen Fußballsports als Massensport. In der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt hier der Übergang von der extensiven zur intensiven Ausbeutung der Arbeitskraft; im Jahre 1863 werden in London mit der Gründung der »Football-Association« die organisatorischen Voraussetzungen für eine »Demokratisierung« des Spiels geschaffen, das vorher das Privileg der von körperlicher Arbeit freigestellten Jugend der feudalen und bürgerlichen Oberschicht an den Public Schools und Universitäten war.
Diese hatten den Fußballsport aus einem im Mittelalter verbreiteten Volksspiel entwickelt, das abgesehen von Fastnachtsturnieren in Vergessenheit geraten war und als Relikt der Vergangenheit galt. Die an der Universität Cambridge geschaffenen »Cambridge Rules« werden fast ohne Änderung als Regeln der »Football Association« übernommen und liefern damit die formale Struktur der sich epidemieartig ausbreitenden Sportart.
Wäre Freizeit allein die von Berufsarbeit freie, von ihr ausgesparte Zeit, so wäre hier, nach Abzug der Zeit, die zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse benötigt würde, noch genügend freie Zeit, die der Lust zur Verfügung stehen könnte. Das vom Eros geleitete Spiel fände hier seinen Platz.
»Aber das Lustprinzip, das das Es regiert, ist ›zeitlos‹ - zeitlos auch in dem Sinn, daß es gegen die Zerstückelung der Lust kämpft, gegen ihre Aufteilung in kleine Dosen.«
Die unter der Tyrannei des Leistungsprinzips stehende Gesellschaft muß notwendigerweise diese Aufteilung erzwingen, der Organismus muß zur Entfremdung erzogen werden. Er muß sich unter psychischem Zwang und leiblicher Qual der Rationalität dieses Prinzips unterwerfen, vor der die zeitlose Lust weichen muß. Was in der Freizeit getan oder gelassen wird, ist in der kapitalistischen Gesellschaft von der Notwendigkeit bestimmt, die Arbeitskraft unverändert zu reproduzieren.
Damit wirken die den Arbeitsbereich bestimmenden Mechanismen auch auf den Freizeitbereich ein, was die Beliebigkeit des Freizeitverhaltens zur Illusion macht. Nicht nur der Umfang der arbeitsfreien Zeit, auch das Verhalten während dieser Zeit ist vom Entwicklungsstand und der konkreten Gestalt der industriellen Arbeit weitgehend bestimmt. Die Gewalt des Kapitals hat Arbeit und Freizeit zusammengeschweißt; sie sind so sehr verschränkt, daß die eine nur mit dem Blick auf die andere verstanden werden kann.
Diese Koordination muß nicht unbedingt durch gesellschaftliche Institutionen von »außen« erzwungen werden; die Kontrolle der Freizeit wird in erster Linie durch die Länge des Arbeitstages erreicht, durch die ermüdende Routine entfremdeter Arbeitsleistungen. Diese Routine bringt es dahin, daß Freizeit zur passiven Abspannung und »Erholung« der Energie für die Berufsarbeit wird.
»Erst im letzten Stadium der industriellen Zivilisation, wo das Wachstum der Produktion die durch die unterdrückende Herrschaft gesetzten Grenzen zu überfluten droht, hat die Technik der Massenlenkung eine Unterhaltungsindustrie entwickelt, die die Freizeit direkt unter Kontrolle hält.«
Der organisierte Fußballsport ist ein Teil dieser Industrie, die der Einübung und Zementierung des herrschenden Realitätsprinzips dient und dadurch die Opfer des entfremdeten industriellen Apparates bei der Stange hält.
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