Fussballsport als Ideologie

Fußballsport und Narzißmus

»Verfolgt man den Weg, den die Entwicklung des Arbeitsprozesses vom Handwerk über Kooperation, Manufaktur zur Maschinenindustrie zurücklegt, so zeigt sich dabei eine ständig zunehmende Rationalisierung, eine immer stärkere Ausschaltung der qualitativen, menschlich-individuellen Eigenschaften des Arbeiters.«

Der Arbeitsprozeß wird in stets zunehmendem Maße in abstraktrationelle Teiloperationen zerlegt, wodurch die Beziehung des Arbeiters zum Produkt als ganzem zerrissen wird und seine Arbeit sich auf eine mechanisch zu wiederholende Spezialfunktion reduziert. Was für die manuelle Arbeit gilt, trifft ebenso für nichtmanuelle Arbeiten zu. Auch »die Routine des Bürobetriebs und das Ritual von Kauf und Verkauf sind jeder Beziehung zu menschlichen Möglichkeiten entkleidet.«

Im Kapitalismus sind Arbeitsmöglichkeiten, die Spuren individueller Existenz dulden, Ausnahmen, die einer winzigen Minderheit vorbehalten sind. Die herrschaftskonforme Rationalität des Produktionsapparates legt fest, wie die Ware Arbeitskraft eingesetzt wird, ohne daß jene, die ihre Arbeitskraft zu verkaufen gezwungen sind, dabei wesentlich mitbestimmen können.

Damit schwindet die Möglichkeit der Identifizierung mit der Arbeit, die Chance, die eigenen individuellen Fähigkeiten zu objektivieren, sich in den Objekten - Produkten der eigenen Tätigkeit - zu erkennen. Die reibungslose Produktion fordert die Ausmerzung von Spuren individueller Existenz, die zu disfunktionalen Schwankungen in der Produktion führen können.

Die für diese Arbeit notwendige Werkintelligenz muß vom übrigen Ich isoliert werden: die individuelle Psyche darf ihrem normierten Einsatz nicht im Wege stehen. »Mit der modernen ›psychologischen‹ Zerlegung des Arbeitsprozesses ragt die rationale Mechanisierung bis in die ›Seele‹ des Arbeiters hinein: Selbst seine psychologischen Eigenschaften werden von seiner Gesamtpersönlichkeit abgetrennt, ihr gegenüber objektiviert, um in rationale Spezialsysteme eingefügt und hier auf den kalkulatorischen Begriff gebracht werden zu können.«

Da diese Form der Arbeit den Menschen keine Selbstdarstellung, sondern lediglich die Manipulation von ihnen entfremdeten Objekten erlaubt, die nicht geliebt werden können, findet die Objektlibido nichts, an dem sie haften könnte; sie kehrt ins Ich zurück.

Den Menschen, die dabei verlernen, Objekte libidinös zu besetzen, wozu sie schon durch den Mangel stabil gewachsener erster Objektbindungen in der Kindheit neigen, bleibt nichts anderes übrig als sich selbst, ihr eigenes Tun, anstatt Menschen und Dinge zu lieben. Einer Überbesetzung des Selbst entspricht eine Unterbesetzung der Außenwelt. Dieser übersteigerte Autoerotismus ist für die Spitzen von Wirtschaft und Politik relativ lohnend, weil die Gesellschaft ihre Aktivitäten mit materiellem Reichtum, Sozialprestige und Herrschaftsfunktionen verbindet.

Für die Masse der Angestellten und die Arbeiter bietet sie hingegen kaum die Chance, besondere Gratifikationen zu erlangen. Ihnen bietet der Sport - wegen seiner Popularität besonders der Fußballsport - die Möglichkeit, für diese Form seelischer Deformierung Prämien zu erlangen.

In einer Gesellschaft, die den Fußballsport zum Geschäft gemacht hat, wird die vom Narzißmus gesteuerte Betriebsamkeit auf dem Sportfeld bei besonderen Leistungen durch materielle Vergünstigungen honoriert.

Ein hervorragender Spieler kann als Berufssportler zu ansehnlichem Reichtum gelangen; selbst für die zahlreichen Scheinamateure gibt es noch lohnende materielle Vergünstigungen. Neben materiellen Vorteilen bietet der Fußballsport die Möglichkeit, den Narzißmus befriedigende Anerkennung bei seinen Mitmenschen einzuhandeln.

Der oft geradezu wahnhafte Eifer, mit dem diese Chance gesucht wird, beruht darauf, daß die Menschen durch ihr Defizit an Objektbesetzungen dazu gehalten sind, »ein Maß ihrer Liebesfähigkeit nicht etwa geliebten anderen zuzuwenden, sondern sich selber, auf eine verdrückte, uneingestandene und darum giftige Art zu lieben.«

Die Aktiven in den Jugendund Reservemannschaften sind fast ausschließlich auf die Anerkennung ihrer Bekannten, Mitspieler und Betreuer verwiesen. Die Mitglieder der Spitzenmannschaften von Vereinen können darüber hinaus bei Zuschauern am Spielfeldrand Bewunderung erringen, deren Zahl mit der Qualität der gebotenen sportlichen Leistungen steigt. Die Möglichkeit, als Spitzenspieler Popularität zu erlangen, ist durch die Massenmedien sehr gesteigert worden: Die Namen der Spieler der Nationalliga-Mannschaften werden in den Montagsausgaben der Tageszeitungen millionenfach gedruckt; Fußballfachblätter leben davon, Spitzenspieler zu glorifizieren; Fußballreportagen, die zu den populärsten Sendungen von Rundfunk und Fernsehen gehören, tragen ihre Namen in jedes Heim.

Der Zugang zu seelischen und ökonomischen Gratifikationen ist beim Fußballsport im Gegensatz etwa zum Tennis oder Motorsport mit geringen Kosten verbunden: Auch den Beziehern mäßiger Einkommen ist er nicht von vornherein verbaut.

Die Ausrüstung, die der Aktive zur Ausübung seines Sports anschaffen muß, ist für jedermann erschwinglich und wird sogar oft vom Verein kostenlos zur Verfügung gestellt. Auch die Mitgliedsbeiträge der Vereine stellen keine unzumutbare finanzielle Belastung dar. Wer Talent und Trainingsfleiß zeigt, wird von zahlungskräftigen Vereinen auf den Weg zum sportlichen Erfolg gebracht.

Die beim Fußballsport vorhandene freie Konkurrenz stellt für die Mitglieder der unteren Bevölkerungsschichten eine freilich geringe Chance vertikaler gesellschaftlicher Mobilität dar. Auf dem Rasen des Fußballfeldes sind in erster Linie die vom Spieler erbrachten Leistungen maßgebend; die Beziehungen wohlhabender Eltern oder die Möglichkeit, andere für sich arbeiten lassen zu können, sind hier von geringer Bedeutung.

Nicht nur der freie Wettbewerb, zu dem sonst im organisierten Kapitalismus kein Platz mehr ist, wird beim Ringen um sportlichen Ruhm ersetzt, auch der wirkliche Kampf um Besserung. Die Pseudoaktivität beim Umgang mit dem Lederball kanalisiert die Energien, die die bestehenden Machtverhältnisse erschüttern könnten. Die Herrschenden haben den Fußballsport als Mittel zur Entpolitisierung der Beherrschten schon entdeckt, als dieser noch in den Kinderschuhen steckte:

Als sich in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Massen der Industriearbeiterschaft für ihn zu interessieren begannen, förderten zahlreiche englische Unternehmer den neuen Sport vor allem deshalb, weil sie hofften, er werde die Arbeiter von politischer Betätigung in ihren Klassenorganisationen fernhalten.6 Auch den Zuschauern auf den Tribünen der Stadien oder vor dem Fernsehschirm gewährt der Fußballsport Befriedigung für zielgehemmte libidinöse Strebungen.

Sie vermögen diese durch den infantilen Mechanismus der Identifikation mit Führerfiguren zu erlangen, welche von erfolgreichen Athleten verkörpert werden können. Die regressive Identifikation mit denselben Akteuren als Führungsfiguren, die an die Stelle des Ich-Ideals treten, erlaubt den Fans gleichzeitig, sich untereinander zu identifizieren. Nach einem siegreichen Spiel der »eigenen« Mannschaft trifft man die Feststellung: »Wir haben gewonnen.« Die Heroisierung der gemeinsamen Idole ermöglicht die Kumpanei der Fußballarenen, ein erbärmlicher Ersatz für die der Spontaneität autonomer Individuen entspringende Brüderlichkeit, die man den Menschen vorenthält.

Beim lokalen Sportgeschehen begünstigt kein Faktor die Identifikationsmechanismen der Zuschauer so sehr wie die Ortsverbundenheit des Vereins, dem die Führerfiguren in Gestalt sportlich erfolgreicher Athleten angehören. Um libidinöse Bindungen zu stiften, müssen die Spieler als Repräsentanten der »Heimat« des Zuschauers erscheinen.

Dabei kann ihre Beziehung zu dieser höchst oberflächlich sein: Das Fußballpublikum stört sich nicht daran, daß sie einen auswärtigen Dialekt oder gar eine fremde Sprache sprechen und sich ihrerseits keineswegs mit der Bevölkerung ihres neuen Wohnortes verbunden fühlen. Meistens identifiziert sich eine Großstadt mit »ihrer« Nationalliga-Mannschaft, die sich mehrheitlich aus angekauften Fremden zusammensetzt. Wenn diese Spieler das Trikot des ortsansässigen Vereins tragen, so akzeptiert sie das Lokalpublikum als »seine« Männer und identifiziert sich, sofern sie entsprechende Leistungen zeigen, in jedem Fall leichter mit ihnen als mit erfolglosen einheimischen Aktiven.

Bei der regressiven Identifikation wird in den Sportstar das eigene nicht erreichte Ich-Ideal hineinprojiziert. Er wird dadurch in oft völlig illusionärer Verkennung der Realität mit menschlichen Vorzügen ausgestattet, die es erlauben, ihn liebevoll beim Vornamen zu nennen. Uwe Seeler etwa wird von den deutschen Fußballanhängern lediglich »Uwe« genannt.

Die narzißtische Beglückung steigert sich, wenn der bewunderte Sportler nicht nur regelmäßig die erhofften sportlichen Leistungen zeigt, sondern darüber hinaus mit weiteren Merkmalen ausgestattet ist, die seine Glorifizierung erlauben. Das Bedürfnis, die Sportidole nicht nur wegen ihrer athletischen Fähigkeiten emotional zu besetzen, erklärt, warum diese nur eine Andeutung einer zusätzlichen Qualität besitzen müssen, die sich zur Schaustellung eignet, um auch des Erfolges in anderen Sparten der Unterhaltungsindustrie sicher zu sein.

»Ein internationaler Champion in einer populären Sportart, der einigermaßen ansprechend aussieht, muß schon an chronischer Heiserkeit leiden oder einen groben Sprachfehler haben, wenn es ihm mißlingt, sich zumindest eine Zeitlang als Sänger gut zu verkaufen.« Die Austauschbarkeit der Stars und Starlets von Film, Schallplatte, Fernsehen und Sport weist darauf hin, daß man ihnen keineswegs als Personen oder Persönlichkeiten die bedeutsame Rolle zuschreiben kann, die sie beim Herstellen sozialen Zusammenhalts spielen. »Diese Starführer ... sind wiederum Funktionäre einer höheren Autorität, die sich nicht mehr in einer Person verkörpert; der Autorität des herrschenden Produktionsapparates.«

Der »glamour«, die glanzvoll attraktive Aufmachung, die der Apparat der Bewußtseinsindustrie durch seine Medien den Muskelmatadoren ebenso wie anderen Idolen des Showgeschäfts verschafft, ermöglicht erst die Autorität, die diese bei ihren Anbetern zu erlangen vermögen. Die Idole der manipulierten Massen tragen nur scheinbar individuelle Züge, sie sind in Wahrheit Produkte ihrer eigenen Reklame, Funktionen sozialer Prozesse.

Die Glorifizierung individueller sportlicher Leistungen stellt sich nur scheinbar in den Dienst der Entfaltung der Individualität, sie verstärkt in Wahrheit die sozialen Zwänge, welche ihr zuwiderlaufen. »Wie die Slogans des schrankenlosen Individualismus den großen Trust politisch bei dem Versuch nützten, sich der sozialen Kontrolle zu entziehen, so verleugnet in der Massenkultur die Rhetorik des Individualismus eben das Prinzip, dem sie Lippendienst zollt, indem sie den Menschen Muster kollektiver Nachahmungen auferlegt.«

Der miterlebte Sporttriumph entschädigt kurze Zeit für die Versagungen des Alltags. Von welcher Intensität die emotionale Anteilnahme an dieser periodisch wiederkehrenden »Erlösungshoffnung« ist, zeigt die bereits erwähnte amerikanische Untersuchung.

Um so unerträglicher ist es, wenn man auf den Rängen erleben muß, wie das »eigene« Team einer Niederlage zusteuert, die den kollektivierten Narzißmus kränkt.

Seine Spieler fallen als Führerfiguren aus, aggressive Impulse, die vorher verdrängt oder verschoben wurden, werden - gegen die Aktiven gerichtet - freigesetzt: sehr schnell verwandeln sich fanatische Anfeuerungsrufe in gellende Pfiffe und Hohngelächter.

Das »Glücksgefühl«, das sich mit sportlichen Erfolgen verbindet, verdankt sich der Realitätsflucht, die die Anpassung an bestehende irrationale Verhältnisse erleichtert. Die Entlastung von den Zwängen der Realität, welche sie gewährt, hebt das Leiden an dieser nicht auf, sondern hilft nur, es kurze Zeit aus dem Bewußtsein zu verdrängen.

»Die Ausbreitung des Sports löst nicht Komplexe auf, sondern ist unter anderem eine Verdrängungserscheinung großen Stils.« Durch die Identifikation mit der Macht und Herrlichkeit eines Kollektivs suchen die Menschen einem unerträglichen Maß an narzißtischen Kränkungen zu entgehen, die durch eine Ich-Schwäche drohen, »die gar nicht nur psychologisch ist, sondern in der der seelische Mechanismus die reale Ohnmacht des einzelnen gegenüber den vergesellschafteten Apparaten registriert«.

Besonders wahnhaften Charakter nimmt diese Bestrebung beim Nationalismus an, der nach wie vor wirksam ist, obwohl er durch den Stand der Entwicklung der Produktivkräfte zumindest in den hochindustrialisierten Ländern jede reale Basis verloren hat und »gänzlich zu der Ideologie geworden ist, die er freilich immer auch schon war«.

Fußball-Länderspiele, bei denen sich die Auswahlmannschaften zweier nationaler Fußballverbände gegenüberstehen, zeigen die ganze Virulenz dieser kollektiven Verblendung, die die realen Machtstrukturen und Interessenkonflikte der Gesellschaft verschleiert. Das Kollektiv, mit dem sich die Menschen identifizieren, kann ihnen hier - im Falle des Sieges der Mannschaft, die es repräsentiert - gleichsam etwas von jener Selbstachtung zurückzahlen, die es ihnen ständig entzieht. In der Hoffnung darauf jubelt die jeweils einheimische Bevölkerung unter Mißachtung des Gastrechts schamlos dem eigenen Team zu.

Die Verbindung, die der Fußballsport mit dem Nationalismus eingeht, wird dadurch erleichtert, daß der fundamentale Klassengegensatz, den der Glaube ans nationale Kollektiv nicht wahrhaben will, bei ihm nicht offen in Erscheinung tritt. Aktive und Zuschauer rekrutieren sich aus allen Gesellschaftsschichten15 und geben sich gemeinsam ihrer Fußballbegeisterung hin.

Der regressive Anschluß an das Kollektiv, dem die Aufputschung des Nationalismus mit Hilfe internationaler Sportbegegnungen dient, erleichtert es den Herrschenden, die Völker in Gefolgschaften zu verwandeln. Deren Verständigungsmittel, der mit dem Schwund der bewußten Persönlichkeit verquickte, präverbale Erregungsschrei, kann im Fußballstadion eingeübt werden.

Daß Fußball-Länderspiele am Vorabend des ersten Weltkrieges erstmals ausgetragen wurden, ist kaum dem Zufall zuzurechnen. Die Oligarchien von El Salvador und Honduras hetzten 1969, um ihre ökonomischen Interessen zu wahren, die von ihnen beherrschten Völker gegeneinander in den Krieg. Zum Anlaß nahmen sie Zwischenfälle bei einem Fußball-Länderspiel, die die Emotionen der Massen in eine nationalistisch aggressive Richtung gewiesen hatten.

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