Von fast allen Theoretikern, die sich mit dem Phänomen Spiel befassen, wird als eines seiner charakteristischsten Merkmale das Moment der Freiheit genannt, das es in einen Gegensatz zur entfremdeten Arbeit bringt. Das mögen wenige Beispiele aus einer Fülle von Theorien belegen:
Für Kant ist die Freiheit von Zwecken eines der Hauptkriterien des Spiels. Im Gegensatz zur Arbeit, die man »einer anderen Absicht wegen unternimmt«, gibt man sich dem Spiel hin, »ohne weiter einen Zweck dabei zu beabsichtigen«.
Hegel äußert im Blick auf die Spiele der Griechen: »Betrachten wir nun die innere Natur dieser Spiele, so ist zuförderst das Spiel dem Ernste der Abhängigkeit und der Noth entgegensetzt. Mit solchem Ringen, Laufen, Kämpfen war es kein Ernst, es lag darin keine Noth des sich Wehrens, kein Bedürfnis des Kampfes.« Herbert Spencer stellt fest: »Die Tätigkeiten, die wir Spiel nennen, kommen mit den ästhetischen Tätigkeiten darin überein, daß weder die einen noch die anderen irgendwie unmittelbar zu dem Leben förderlichen Prozessen beitragen.«
Erik Erikson sagt vom spielenden Menschen: »Er muß sich frei fühlen von Angst vor weitreichenden Konsequenzen und von der Hoffnung darauf. Er macht Ferien von der Wirklichkeit.«
Obwohl diese Gedanken völlig verschiedenen Zusammenhängen entstammen, stimmen sie darin überein, daß das Spiel letztlich die Loslösung von der geltenden Realität voraussetzt. Bezeichnungen wie Fußballspiel, Spieler, Spielfeld oder Spielregel sind demnach unter den Bedingungen des organisierten Leistungssports längst ebenso trügerisch geworden wie die gängige bundesdeutsche Sportideologie, die in den Worten ihres prominentesten Vertreters Carl Diem behauptet: »Sport ist eine Erscheinung aus dem großen Lebensbereich des Spiels. Spiel ist ein zweckfreies Tun um seiner selbst willen, also im Gegensatz zur Arbeit.«
Und: »Wir verstehen Sport als Spiel und sehen ihn im Gegensatz zur Arbeit; deshalb unterscheidet sich sportliche Leistung grundsätzlich von der Leistung in der Arbeitswelt. Sport würde nach unserer Auffassung sein Wesen verlieren, wenn er des spielhaften Mutterbodens verlustig ginge und zur reinen Arbeit würde, die sich in der Welt der Zwecke erschöpft.« Was vorgibt Spiel zu sein, verdoppelt unterm Schein der freien Entfaltung der Kräfte die Arbeitswelt.
Der Fußballsport, der spielerische Momente in seinen Anfängen noch duldete, hat diese zunehmend ausgeschieden. Wo er noch ans Spiel erinnert, muß er sich der Organisation wie dem Markt entziehen und wird als privatisierter Rest im Bekanntenkreis gepflegt. Wie Max Weber herausgearbeitet hat, verlangt die ökonomische Vernunft des Kapitalismus das Streben nach immer erneutem Gewinn im kontinuierlich und effektiv arbeitenden kapitalistischen Betrieb.
Eine bestimmte Form der Rationalität ist die Bedingung der Rentabilität, die ihrerseits an der systematischen Kalkulation der Kapitalrechnung orientiert ist. »Im Grunde dieser Rationalität herrscht die Abstraktion, die, theoretisch und praktisch ineins, Werk der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation, die Periode des Kapitalismus bestimmt: durch die Reduktion von Qualität auf Quantität.«
Die im Tauschprinzip verankerte Rationalität des kapitalistischen Produktionsapparates, die die quantifizierende Abstraktion von allem Besonderen durchsetzt und damit die universelle Funktionalisierung erlaubt, organisiert und kontrolliert nicht nur Menschen und Dinge in der Arbeitssphäre, sondern auch während der Freizeit: also auch beim Sport. Im Kapitalismus wird die Ware zur »Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen Seins«:
Die Rationalität des Warenverkehrs durchdringt alle Lebensäußerungen der Gesellschaft und des Individuums. Zum Rekord, der im Mittelpunkt vieler sportlicher Disziplinen steht, bemerkt Arnold Gehlen: »Er entspricht der in unserem Leben immer deutlicher hervortretenden Rationalisierung ... , als er vom Qualitativen absieht und allein das Meßbare und Quantitative herausholt.«
Beim Fußballsport zeigt sich die Dominanz des Quantitativen in der Relevanz der Zahl der von einer Mannschaft erzielten oder hingenommenen Tore, in der Bedeutung der Punktezahl, die eine Mannschaft für ihre Siege, Niederlagen oder unentschieden gestalteten Spiele erhält, und in der Rolle, die der Tabellenplatz für ein Team spielt. Der durch das Punktekonto und die Torquote festgelegte Rangplatz in der Tabelle der Liga liefert letztlich den einzigen Maßstab, an dem die Leistung einer Mannschaft gemessen wird.
An der Spitze der Tabelle zu rangieren ist das Ziel, auf das alle Betriebsamkeit gerichtet ist, der Zweck, dem alles unterworfen wird. Die gesellschaftliche Vernunft, die Wirtschaft und Sport gleichermaßen lenkt, ist partieller Art, sie ist kapitalistisch-technische Vernunft. Hier wie dort schrumpfen die menschlichen Subjekte im Dienste einer begrenzt rationalen Leistungsmaximierung zu Verkörperungen von quantitativen Größen.
In der Rationalität der Kapitalrechnung erscheint der Mensch nur als variable Größe: in der Kalkulation von Erwerbs- und Profitchancen. In der Rationalität des Fußballsportes erscheint er als »Spielermaterial«: in der Kalkulation von Siegeschancen, die meist ebenfalls zu Profitchancen werden. Sowohl im Wirtschaftsunternehmen wie auf dem Sportplatz ist der Mensch austauschbar.
Wer aus Alters- oder Gesundheitsgründen nicht mehr mitkommt, ist für einen Platz in der ersten Mannschaft ebenso verloren, wie für eine umkämpfte Position in der Betriebshierarchie. Wer die geforderte »Form« nicht mehr bringt, wird aus dem »Rennen« ausgeschieden. Jeder in Hochform befindliche Spieler gilt nach dem Urteil der Vereinsleitung und der Kommentatoren der Massenmedien als absolut unersetzlich, doch noch immer hat sich ein Ersatzmann gefunden, der seine Rolle vollständig ausfüllt. Der Ersatzmann ist unterm Spätkapitalismus kein wirkliches Problem mehr: Der Mensch ist auf dem Sportplatz ebenso auswechselbar, wie in den Büros und Werkhallen des Konzerns.
»Der hoch so mathematisierte 'wissenschaftliche' Kapitalismus bleibt mathematisierte, technologische Herrschaft über Menschen.«
Es ist die Rationalität der Herrschaft, welche die maximale Ausbeutung der Arbeitskraft ebenso wie die optimale »Torausbeute« von den athletischen Fähigkeiten verlangt. Das wahre Interesse der Menschen, die Negation der Verdinglichung, läuft ihr zuwider. Der Mensch wird unterm Kapitalismus zum Anhängsel an Warendinge, zum Material, das seine Bewegungsgesetze nicht in sich selbst trägt, sondern von der Ökonomie diktiert bekommt.
Der Verdinglichungsprozeß beeinflußt auch die Triebstruktur der Menschen: ihre Dynamik wird statisch; die lebendige Wechselwirkung zwischen Ich, Über-Ich und Es weicht automatischen Reaktionen. Spontanes Handeln, eines der wichtigsten Attribute von Individualität, das nicht zufällig in der revolutionären Theorie eine wichtige Rolle spielt, erstarrt zu mechanischen Verrichtungen.
Der Mensch erscheint im industriellen Arbeitsprozeß nicht als dessen eigentlicher Träger, sondern er wird als mechanisierter Teil in ein mechanisches System eingefügt, dessen Gesetzen er sich willenlos zu fügen hat. Die Anpassung an derart verhärtete Verhältnisse, denen gegenüber der einzelne ohnmächtig ist, bringt zugleich eine Verhärtung des Subjekts mit sich. »Je realitätsgerechter es wird, desto mehr wird es sich selbst zum Ding, desto weniger lebt es überhaupt.« Die Gestalt der Triebenergie, die dies ermöglicht, indem sie das Ich zugleich negiert und in irrationaler Weise verhärtet, ist der sekundäre Narzißmus. Das Verhältnis des von ihm beherrschten Ich zur Außenwelt ist vom Wiederholungszwang bestimmt.
Mit seiner Hilfe scheint die Maschinerie denen, die sie bedienen, ihren Rhythmus einzuhämmern. »Alles in allem schwingen wir mit den Dingen mit«, stellt ein Arbeiter fest. Dieser Satz bringt einen Wandel in der mechanisierten Versklavung zum Ausdruck: »die Dinge schwingen mehr als daß sie unterdrücken, und sie versetzen das menschliche Instrument in Schwingungen - nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist und sogar seine Seele«.
Diese Art der Versklavung kann kaum noch als solche empfunden werden, denn sonst nähme man sie nicht außerhalb der Berufsarbeit ›freiwillig‹ bei athletischer Betätigung auf sich. »Die außerordentlich große Disziplinbereitschaft der heutigen Menschen wird vielleicht nicht weniger auf dem Sportplatz als in der Maschinenhalle gezüchtet.«
Auf dem Sportplatz verlängert sich die Unfreiheit der entfremdeten Arbeit, den Beherrschten so wenig durchschaubar wie ihre Unfreiheit selbst. »Deshalb gelingt die Integration der Freizeit so reibungslos: Die Menschen merken nicht, wie sehr sie dort, wo sie am freiesten sich fühlen, unfrei sind, weil die Regel solcher Unfreiheit von Ihnen abstrahiert wird.«
Der Fußballsport sucht die Menschen unerbittlich zur Bedienung der Maschine einzuschulen, indem er durch sein Training den Leib und die Seele tendenziell der Maschine angleicht. »Es ist unverkennbar, daß die Entfaltung des Sports im Zusammenhang mit der fortschreitenden Mechanisierung steht und daß er selbst immer mechanischer geübt wird.
Wir sehen das ... auch bei allen Sports, von denen die Maschinen ausgeschlossen bleiben. Der Mensch selbst wird hier zu einer Art Maschine, seine Bewegung, die von Apparaten kontrolliert wird, wird maschinell.«19 In der Sprache des Leistungssports wird der Begriff »Technik« nicht zufällig zur Bezeichnung eines zweckrationalen Bewegungsverhaltens, in bezug auf den menschlichen Körper gebraucht.
Die »Balltechnik« bildet die Grundlage fußballerischer Fähigkeiten: »Keineswegs gebührt die Bezeichnung ›Fußballspieler‹ jemandem, der nicht im Stande ist, den Ball wenigstens annähernd richtig zu stoßen, zu köpfen oder zu stoppen.«
Um sie zu erlernen, bedient sich der Sport der Erkenntnisse der Arbeitsphysiologie, insbesondere des Taylorismus, der die Bewegungen des Arbeiters so zu rationalisieren trachtet, daß sie sich reibungslos, unter optimaler Arbeitsleistung, dem Rhythmus der Maschinerie eingliedern lassen. Nach tayloristischem Vorbild werden beim Training die für die optimale Ballbeherrschung notwendigen Bewegungen in ihre Bestandteile zerlegt, denn »durch unzählige Wiederholungen können einzelne technische Momente mit der Zeit fast bis zur Vollkommenheit eingeübt werden«.22 Diese Elemente werden dann - ebenfalls den Grundsätzen Taylors entsprechend - sukzessiv zu den im »Ernstfall« erforderlichen Bewegungen zusammengesetzt, zu rationellster Fußballtechnik, die bei möglichst geringem Kraftaufwand eine optimale Leistung ermöglicht.
Die Habitualisierung balltechnischer Bewegungsabläufe, die ein Spitzenspieler in der präzisen Art eines Automaten ausführt, erlaubt es, die Aufmerksamkeit den taktischen Anforderungen des Spiels zuzuwenden. Diese werden den Spielern im Training mit Hilfe sogenannter Komplexübungen eingepaukt, die den während des Wettkampfes möglichen Spielmosaiken gleichen.
Der Trainer ist bestrebt, bei seinen Schützlingen eine möglichst große Zahl solcher Spiellösungen zu »speichern«, denn mit der Zahl der ihnen zur Verfügung stehenden Varianten wächst die Chance, den Gegner beim Wettspiel dadurch zu überlisten, daß man ihm die eigene Strategie aufzwingt und ihn an der Durchführung seiner taktischen Pläne hindert.
Das Fußballspiel zeigt wegen der verbesserten körperlichen Leistungsfähigkeit der Aktiven die Tendenz, immer schneller zu werden: den Spielern bleibt immer weniger Zeit zu Überlegungen und taktischen Entscheidungen. Um erfolgreich agieren zu können, müssen die Spieler deshalb von ihrem Trainer für die Wettspiele so »programmiert« werden, daß sie bei bestimmten Spielkonstellationen automatisch bestimmte Spiellösungen versuchen.
Nicht nur vom Körper, auch von der Bewußtseinsinstanz der Spieler wird die Verwandlung in einen technischen Apparat verlangt. »Die Spieler müssen zahlreiche taktische Möglichkeiten zur Lösung der Spielsituationen beherrschen. In diesen Belangen müssen die Spieler eintrainiert sein, da die Spielsituationen, die rasend schnell wechseln, rasche Anpassung erfordern, was nur durch eingeübte Stereotype, im Nervensystem verankerte ›Lösungsquadrate‹ erreichbar ist.«
Beim Wettkampf kann sich ein so trainierter Spieler dann sozusagen »regelungstechnisch« verhalten, indem er auf die Erfolge der Handlungen seines Teams reagiert und umgekehrt die Aktionen der gegnerischen Mannschaft »speichert«, um sie in seine Aktionen mit einzukalkulieren. Der kapitalistische Produktionsapparat steht auf jeder Stufe seiner Entwicklung den Subjekten, die ihn produziert haben, als ein starres, fertiges System gegenüber, dessen Gesetzen sie sich willenlos zu fügen haben. »Diese Willenlosigkeit steigert sich noch dadurch, daß mit zunehmender Rationalisierung und Mechanisierung des Arbeitsprozesses die Tätigkeit des Arbeiters immer stärker ihren Tätigkeitscharakter verliert und zu einer kontemplativen Haltung wird.«
Diese »Kontemplation« ist jedoch mitunter anstrengender und entnervender als handwerkliche Aktivitäten. In einem Hof von abgeblendetem Bewußtsein wird, bei der Bedienung der heute vorherrschenden halbautomatischen Maschinen, meist krampfhaft durchzuhaltende Aufmerksamkeit verlangt, die die Nerven bis zur Erschöpfung aufreiben kann. Die Irritation, die diese Arbeit in der Freizeit hinterläßt, weckt ein Verlangen nach Kontrasterfahrung, »nach einer neuen Reizung, mit der die vorherige entspannt wird«.
Zugleich aber hat die mechanisierte Arbeit solche Macht über den Freizeitler, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvollzuges. Auch nach der Arbeit verhält man sich passiv und erwartet die Lieferung von Stoff, der sich in den Assoziationsgleisen der Arbeitswelt bewegt. »Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozeß ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein.«
Die Nachfrage nach derlei »Muße« befriedigt die Sportshow in den Fußballarenen. Den Tausenden auf den Rängen liefern hier die 22 Athleten genormte Verrichtungen, die denen während des Arbeitsvollzugs gleichen. Die inhaltlichen Differenzen gegenüber der Arbeit sind dabei unwesentlich, der vorgebliche Inhalt ist bloß verblaßter Vordergrund: was sich einprägt sind die der technisierten Arbeit ähnlichen Bewegungsabläufe. Der Zuschauer strebt danach, sich widerstandslos überfluten zu lassen: Da er am Arbeitsplatz gelernt hat, sich willenlos den Anforderungen der betrieblichen Rationalität einzugliedern, sich passiv den Anordnungen seiner Vorgesetzten zu fügen, sucht er sich auch in der Freizeit selbständigen Leistungen zu entziehen. Seine Phantasie schrumpft: Wer sich anpassen will, muß auf Phantasie verzichten.
Selbst die Beurteilung des sportlichen Geschehens nimmt der Zuschauer nicht gerne allein auf sich; die Reportagen und Kommentare der Massenmedien, die über das von ihm besuchte Spiel berichten, üben eine magische Anziehungskraft auf ihn aus. Der kapitalistische Produktionsapparat, als dessen Agenten bzw. Führerfiguren die Reporter und Kommentatoren auftreten, sucht die Versklavung lückenlos zu gestalten.
Wie sehr das geschwächte Ich der Zuschauer an diese Führung durch die Medien gekettet ist, läßt die Tatsache ahnen, daß manche Fans im Stadion die Übertragung jenes Spieles mit Hilfe des Transistorgerätes verfolgen, das eben vor ihren Augen abläuft. Da der moderne Fußballsport für die aktiv wie für die passiv an ihm Beteiligten die Arbeitswelt in vieler Hinsicht verdoppelt, wird der Unterschied zwischen seinen Konsumenten und Produzenten wenig mehr als ein quantitativer. Das Ergebnis einer amerikanischen Untersuchung belegt dieses auf kuriose Weise.
Veränderungen in der Blutzucker- und Adrenalinkonzentration des Blutes infolge starker körperlicher Anstrengung waren nicht nur bei den Aktiven, sondern in gleichem Maße auch bei den Zuschauern von Footballspielen anzutreffen. Bei letzteren stellte sich sogar der Normalpegel langsamer wieder her als bei den Aktiven.27 Quantitativ ist der Unterschied zwischen Zuschauern und Aktiven allerdings beträchtlich. Aktiv beteiligen sich an Wettkämpfen aller Sportarten in der Bundesrepublik etwa 3% der Bevölkerung; die Rundfunk- und Fernsehübertragung des Endspieles um die Fußballweltmeisterschaft 1966 verfolgten 85% der Bevölkerung.
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