Der Fußballkult ist unserer Gesellschaft zu einer Art Lebensersatz geworden. Die unter großer Anteilnahme der Bevölkerung zur Fußballweltmeisterschaft kulturindustriell angeheizte Fußballbegeisterung macht dies besonders sichtbar. Viele Intellektuelle, die sonst noch halbwegs bei Verstand sind, verspüren heute den Drang, sich als Fußballfans zu outen, anstatt, wie es ihre Aufgabe wäre, kritisch über die soziale Rolle des Fußballsports nachzudenken.
Das rechtfertigt es, dass ein älterer Text, der eine grundlegende Kritik des Fußballsports versucht, wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Die Kritik, die er übt, mag problematische Züge tragen oder in manchem veraltet sein, sie hat aber leider, wie ich fürchte, noch an Aktualität gewonnen.
Der folgende Text entstand vor über 30 Jahren. Ich habe ihn als Mitglied einer Richtung der studentischen Protestbewegung der sechziger Jahre geschrieben, die sich als antiautoritäre sozialistische Linke verstand. Wir waren im Bereich der theoretischen Arbeit auf eine Erneuerung des Marxismus und seine Verbindung mit der Psychoanalyse aus, um Perspektiven hin zu einer offenen, lebensfreundlichen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus entwickeln zu können.
Als Angehörige einer Generation in Deutschland, deren frühe Kindheit durch Krieg und Faschismus und die schuldhafte Verstrickung der meisten Eltern in sie bestimmt war, wollten wir nach dem Dritten Reich einen radikalen Bruch mit einer historischen Tradition, die durch gesellschaftliche Katastrophen geprägt war: alles sollte neu und anders werden! Unsere geistigen Lehrer waren vor allem jüdische Intellektelle wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, für die die westliche Zivilisation mit Auschwitz ihren Bankrott erklärt hatte. Nicht wenige unserer Generation dachten und fühlten damals ähnlich wie wir.
Das kam einer radikalen Sportkritik zugute, die auf kulturrevolutionäre Wandlungen aus war. Mein Buch wurde in einige Sprachen übersetzt, es konnte in den sechziger und siebziger Jahren viel Interesse wecken und provozierte intellektuelle Auseinandersetzungen, die in Deutschland und anderen Ländern die Sportwissenschaft beeinflusst haben.Fußballsport als Ideologie.
Die politischen Konstellationen und das intellektuelle Klima haben sich seit Ende der sechziger Jahre grundlegend verändert. Die antikapitalistische Linke, die damals eine Art kultureller Hegemonie erobern konnte, hat sie in Deutschland, und nicht nur dort, längst wieder eingebüßt.
Das Scheitern der staatssozialistischen Systeme Osteuropas, für die Bundesdeutschen im damaligen Nachbarstaat DDR, hat überall in den westlichen Gesellschaften massive intellektuelle Irritationen ausgelöst, die zwar auch neue kritische Einsichten möglich machten, die aber vor allem verbreitete moralische und intellektuelle Zusammenbrüche mit sich brachten.
Dies bei Vielen nicht etwa, weil der gescheiterte bürokratische Staatssozialismus ein besonders attraktives Gegenmodell zur westlichen Form der Vergesellschaftung lieferte, sondern weil der universelle Triumph des Kapitalismus den Glauben an die Möglichkeit grundlegender sozialer Veränderungen weitgehend zerstört hat.
Die Regeln der westlichen, vom Kapitalismus geprägten Zivilisation gelten heute den meisten als unabänderliche Naturgesetze, die Anpassung an sie wird allenthalben als Ausdruck realistischer Nüchternheit ausgegeben. Ein solcher Triumph des "real existierenden Opportunismus" sorgt dafür, dass viele Intellektuelle, die früher das Bestehende grundlegend zu kritisieren suchten, sich heute im Ja-Sagen üben.
Unter diesen Umständen hat es eine radikale linke Sportkritik heute viel schwerer, sie gilt leicht als Ausdruck eines antiquierten Dogmatismus. Dabei zeigt die westliche Kultur bei uns heute sehr viel ausgeprägtere Krisentendenzen als während der sechziger Jahre.
Zum Beispiel gab es damals, zumindest in den hochentwickelten westlichen Ländern, noch nicht die heutige Massenarbeitslosigkeit mit ihren verheerenden sozialen und psychischen Folgen, und die von der industriellen Massenkultur organisierte fatale Flucht vor der Wahrnehmung belastender politischer und sozialen Realitäten war weit weniger ausgeprägt. Die grundlegende Kritik am Bestehenden und das mit ihr verbundene Nachdenken über soziale Alternativen sind deshalb keineswegs überflüssig geworden, sie sind vielmehr mehr denn je dringend nötig.
Die von Silvio Berlusconi repräsentierte Politik bedrohte, und bedroht noch immer, im gegenwärtigen Italien auf sehr gefährliche Art das demokratisches Potential der Gesellschaft. Sie verdankt ihren Einfluss nicht zuletzt ihrer Macht über Massenmedien, die es erlaubt, eine durch soziale Krisen verunsicherte Bevölkerung mit Hilfe von Phantasmen, die der Verschleierung von Interessen dienen, an sich zu binden.
Im Bereich dieser Phantasmen kommt denjenigen, die mit dem Fußball verbunden sind, eine zentrale Rolle zu: Ohne seine Rolle im italienischen Fußball, besonders als Präsident von AC Milano, hätte Berlusconi kaum seine gegenwärtige Machtposition erreicht. Das weist darauf hin, dass das Nachdenken über die Rolle, die der Fußballsport als Kitt für prekäre soziale Verhältnisse spielen kann, das mein Buch anregen wollte, durchaus noch sehr aktuell ist.
Das Buch sollte die Entwicklung einer Sportwissenschaft anstoßen, die mehr sein wollte als ein Instrument zur Rationalisierung des bestehenden Sportbetriebs. Es sollte ein gründlicheres, mit genaueren Untersuchungen verbundenes Nachdenken vorbereiten aber keineswegs ersetzen. Einiges, was in dem Buch steht, ist sicherlich durch historische Wandlungen überholt, seine Sprache ist in manchem verbraucht, in den letzten dreißig Jahren wurden neuartige Interpretationsmöglichkeiten im Bereich der sozialpsychologischen Kulturtheorie entwickelt, die ich bei seiner Niederschrift noch nicht nutzen konnte.
Trotzdem fürchte ich, dass eine radikale Kritik, wie es sie übt, heute nicht vor allem wegen ihrer theoretischen Mängel als überholt abgelehnt wird, sondern weil die Realität, mit der es sich auseinandersetzt, in manchem seit seiner Veröffentlichung noch schlimmer geworden ist. Zu dieser Verschlimmerung gehört nicht zuletzt, dass auch die Kraft geschwunden ist, ihr ins Auge zu schauen. Man braucht deshalb mehr denn je eine Droge, wie sie der Sportbetrieb anbieten kann, um sie ertragen zu können.
Das Buch wurde im Horizont der von Adorno und Horkheimer geprägten "Kritischen Theorie", geschrieben. Als ich es formulierte, habe ich bei diesen Schulhäuptern der "Frankfurter Schule" studiert. Die Intention ihrer Variante der Kritischen Theorie ist es, die Schattenseiten einer bestehenden sozialen Realität sichtbar zu machen - über die Widersprüche dieser Realität oder die Möglichkeitsräume, die sie enthalten könnte, macht sie sich wenig Gedanken.
Das bedeutet für mein Fußballbuch, dass es sich wenig um widersprüchliche Möglichkeiten des Fußballsports kümmert und kaum der Frage nachgeht, ob im Bereich des Sports auch Potentiale wirksam werden, die durch ihre Veränderung und Loslösung von bestehenden ökonomischen und sozialen Zwängen auch eine andere Bedeutung erlangen könnten.
Da ich mich seit der Niederschrift des Buches viel mit erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt habe, sehe ich heute genauer, dass der Fußballsport nicht nur fragwürdige Formen der Anpassung begünstigen kann, sondern unter Umständen auch einen positiveren Beitrag zur Sozialisation zu leisten vermag. Bei der Ablösung von der Familie, und dabei speziell von den Müttern, kann er hilfreiche Wirkungen zeitigen.
Jugendlichen, die psychisch und sozial entwurzelt und desorganisiert sind, kann der Fußballsport dabei helfen, die Notwendigkeit von sozialen Regeln und der Rücksichtnahme auf Andere in einer sozialen Gruppe zu akzeptieren. Wo, wie etwa in Slums, jede soziale Ordnung zu zerfallen droht, kann der Sport Jugendlichen einen letzten notwendigen Halt geben, der sie vor der Asozialität bewahrt.
Der Fußballsport kann zwar, wie das Buch aufzeigt, sehr fragwürdige Formen von Härte gegen Andere und das eigene Selbst begünstigen, aber er kann auch helfen, destruktive jugendliche Aggression an Regeln zu binden und sie dadurch zu entschärfen.
Lernprozesse hin zu sozialeren Einstellungen und selbsttätigem Engagement kann der Sport aber nur dann anstoßen, wenn soziale Räume vorhanden sind, in denen Jugendliche, trotz ihrer Bindung an die Regeln des Spieles, auch eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten vorfinden. Dazu müssen sie sich der Tyrannei eines vom Spitzenport propagierten Leistungsprinzips und den mit ihm verbundenen ökonomischen Zwängen und verfestigten institutionellen Strukturen entziehen können, was leider heute immer weniger möglich ist. Man kann in einer anderen Perspektive, als sie mein Fußballbuch einnimmt, auch die Frage steilen, ob der Sport nicht Wünsche anzieht und Möglichkeiten in sich trägt, die, verknüpft mit dem Ringen um offenere soziale Räume und andere Organisationsformen des Sozialen, eine neue Bedeutung erlangen könnten.
Der Sport hat Wurzeln in den Kampfspielen und Fruchtbarkeitsriten vorindustrieller Gesellschaften und verarbeitet psychische Konfliktkonstellationen und Triebeinstellungen, die sich mit Hilfe der Psychoanalyse vor allem dem ödipalen Konflikt und den Erlebnisweisen der Adoleszenz zurechnen lassen. Diese Elemente gehen in Züge des Sports ein, die den vom industriellen Kapitalismus bestimmten Lebensformen entsprechen. Nur unter seinem Einfluss erlangt der Sport seine spezifische moderne Form, als eine auf quantitativ messbare Leistungen ausgerichtete Aktivität, die an institutionalisierte Konkurrenzsituationen gebunden ist.
Das Buch will insbesondere deutlich machen, wie das Wesen des Spitzensports, als eines kommerziell organisierten Showsports, der den gesamten Sportbetrieb entscheidend prägt, durch die Rationalität des Kapitalismus bestimmt wird.
Seine Behauptung einer kapitalistischen Formbestimmtheit des organisierten Fußballsports scheint mir heute mehr denn je Gültigkeit zu haben. Als das Buch geschrieben wurde, war die unmittelbare Durchdringung des Sportbetriebs von ökonomischen Interessen noch längst nicht so weit fortgeschritten, wie das heute der Fall ist.
Sie ist heute so selbstverständlich geworden, dass man sich eine andere als eine kommerzielle Organisation des Spitzensports kaum noch vorstellen kann. In den sechziger Jahren, als das Buch geschrieben wurde, wurde der Spitzenfußball in Deutschland noch von ehrenamtlich geführten Vereinen organisiert, die sich in der Zwischenzeit in Wirtschaftsunternehmen mit einem hochbezahlten Management verwandelt haben. Der Umsatz der Vereine in der Deutschen Bundesliga beträgt heute jährlich mehr als anderthalb Milliarden Euro.
Die damals noch bestehende Trennung zwischen bezahltem Fußball und Amateurfußball ist in der Zwischenzeit hinfällig geworden. Die Gehälter der Spieler, die bis in die sechziger Jahre nach oben hin noch vertraglich begrenzt waren, sind ungeheuer gestiegen. Die Trikotwerbung, die in den sechziger Jahren noch verboten war, führt heute zu hochdotierten Verträgen zwischen den Clubs und multinational tätigen Wirtschaftsunternehmen die den Sport zu Werbezecken nutzen wollen und deshalb Erfolge von ihnen verlangen.
Die Vereine verdienen heute viel Geld mit der Herstellung von Fan-Artikeln, die ihre Anhänger früher allenfalls selbst erzeugten. Neue kommerzielle Fernsehsender haben die Einnahmen der Vereine aus Übertragungsrechten an ihren Spielen enorm gesteigert. Überall zeigt sich eine immer engere Verknüpfung zwischen Sport, Warenverkauf und Warenwerbung, die dafür sorgt, dass der Sport immer stärker unmittelbar von den Strukturen des kapitalistischen Wirtschaftens durchdrungen wird.
Selbst die im gegenwärtigen Kapitalismus angelegte Tendenz zu wilder Spekulation, die in Betrug und Bankrott mündet, kehrt im Bereich des Leistungsports wieder. Ganz allgemein bestimmen vielerlei Verbindungen des kommerzialisierten Sports mit dem Medienrummel, der Propaganda für kapitalistische Leistungsmoral und den Inszenierungen der Warenwerbung heute ungleich mehr unsere Alltagskultur, als dies in den sechziger Jahren der Fall war.
Die Kleidung hat sich seither immer mehr der Sportkleidung angenähert, sportliche Fitness hat zunehmend das Ideal der erotischen Attraktivität und der körperlichen Schönheit mitbestimmt.
Auch in der Sphäre des Politischen hat der Sport an Einfluss gewonnen: Die Sprache des politischen Journalismus der Massenmedien, an die sich die Politiker angepasst haben, ähnelt immer stärker der Sprache des Sportjournalismus. Ein Spitzenpolitiker muss heute Sportbegeisterung zeigen; seine Erfolgschancen können eher mit demonstrierter sportlicher Fitness als mit intellektuell begründeten Argumenten wachsen.
Je mehr der Sport von den Gesetzen des kapitalistischen Marktes durchdrungen wird, desto mehr verwandelt sich Sport in Arbeit. Die Spitzenfußballer werden zu Verkäufern ihrer sportlichen Leistungsfähigkeit als einer Ware, die sie Fußballunternehmen zur Verwertung anbieten, welche den Regeln des Marktes unterworfen sind.
Damit nehmen sportliche Aktivitäten offen sichtbar oder auch nur insgeheim immer mehr Züge von Aktivitäten an, die ansonsten in der beruflichen Arbeitsweit abverlangt werden. Ihre Fremdbestimmung durch institutionelle Reglementierungen, ihre Unterwerfung unter ein Kommandoverhältnis, ihre Verplanung durch Experten und ihre Durchdringung durch ein gnadenloses Konkurrenzprinzip wächst ständig.
Ein Spitzenspieler muss heute nicht mehr nur seine sportlichen Fähigkeiten verkaufen, er muss auch in der Lage sein, sich als Person, in einem ganz anderen Ausmaße als das früher der Fall war, verwerten zu lassen. Sein Engagement in der Warenwerbung, als Sympathieträger seines Vereins oder als Agent seiner Karriere verlangen es auch, die eigene Person marktkonform umzumodeln.
Vom Spitzenspieler wird heute nicht mehr nur verlangt, dass er gut Fußball spielen kann, er muss auch in der Lage sein, seine besondere Rolle in den kommerzialisierten Medien zu spielen. Er muss heute sogar, möglichst zum passenden Zeitpunkt, die vom zahlenden Publikum erwarteten öffentlichen Tränen der Rührung weinen können.
Nur als Bruder der fremdbestimmten Arbeit erlangt der moderne Sport seine besondere Bedeutung. In ihm reproduzieren sich Elemente der Arbeit in anderer Gastalt, sichtbar und unsichtbar, nicht nur bei den Aktiven sondern auch bei den Zuschauern. Das Buch hat versucht dies aufzuzeigen.
Die Analyse wäre hier auf differenziertere Art weiterzutreiben, es wäre zu fragen, wie sich die durch Automatisierung und elektronische Datenverarbeitung bedingten Veränderungen in der Arbeitswelt auch in der Sphäre des Sports niederschlagen. Der Sport ist freilich nicht nur dadurch an die Arbeit gebunden, dass er sie in vielerlei Hinsicht verdoppelt, er hat auch die Aufgabe, ihre Belastungen zu kompensieren, also einen Ausgleich für sie zu verschaffen, der ihr angemessen ist.
Die Analyse, die mein Buch vornimmt, hat eine Schwäche darin, dass sie darauf zu wenig eingeht. Die Elemente des Sports, in denen sich die typische gesellschaftliche Arbeit verdoppelt, sind mit Elementen des Sports verbunden, die in einem Widerspruch zu ihr stehen. Wäre der Sport nur Fabrik- oder Büroarbeit in anderer Gestalt, würde er kaum seine ungeheure Faszination ausüben, die ihn erst dazu geeignet macht, ideologischen Kitt für schlechte Verhältnisse zur Verfügung zu stellen.
Die Kritik an der in diesem Buch vertretenen These, dass der Sport die Arbeit verdoppelt, hat darin ihr Recht, dass sie auf die bereichsspezifische Logik des Fußballsports hinweist. Sie dient aber der Verschleierung von schlechten Realitäten, wenn sie die Elemente der Unfreiheit verleugnet, die den Sport mit der entfremdeten Arbeit verbinden und dadurch an sie fesseln.
Einige Hinweise auf den Widerspruchszusammenhang von Arbeit und Sport müssen hier genügen. Sportliche Erfolge sind tendenziell planbar, aber dies nicht in dem Ausmaß wie zum Beispiel der Output von industriellen Produktionsprozessen. Trotz aller Reglementierung gibt es beim Fußballsport Spielräume, die sich unterschiedlich nutzen lassen, und deshalb einzelnen Spielern, Trainern oder ganzen Mannschaften eine besondere Profilierung erlauben.
Beim Fußballsport spielen Unwägbarkeiten, die zu überraschenden Ergebnissen fuhren können, eine Rolle, die einen Teil des Reizes dieses Spiels ausmachen. Die Beherrschung des runden Leders mit dem Fuß kann auch den vollkommensten Athleten nicht immer gelingen. Die Ballannahme, das gerichtete Treten bei der Ballabgabe oder das Dribbling stellen, besonders unter der Einwirkung des Gegners, hinsichtlich der Körperbeherrschung oft nicht erfüllbare Anforderungen an die Spieler oder erlauben diesen eine besondere Profilierung durch Leistungen in Grenzbereichen.
Die Spieler sollen aber nicht nur möglichst den Ball unter Kontrolle halten, sie müssen sich zugleich auch auf die oft überraschenden Aktionen ihrer Teamkameraden und Gegner einstellen, was nicht immer gelingen kann. Deshalb kommt es während eines Fußballspiels immer wieder zu einem Hin und Her zwischen den gegnerischen Mannschaften, das mit einem Spannungsaufbau und dem Lösen von Spannungen durch geglückte oder missglückte Aktionen verbunden ist.
Das Fußballtraining erlaubt es zwar, die Ballbeherrschung und das Zusammenspiel einer Mannschaft sehr planvoll zu üben, aber die antrainierten Fähigkeiten müssen während des Wettkampfes in einer Vielzahl von Variationen abgerufen werden, die vorher nicht genau vorhersehbar sind. In gewisser Weise wiederholt sich zwar auf dem Fußballfeld wie im Bereich der Arbeit das immer Gleiche, aber es tritt auf dem Rasen in spannungsreicheren, rasch wechselnden Konstellationen auf und erlaubt es so, in der Öffentlichkeit besondere Talente beim Nutzen von Spielräumen zur Schau zu stellen.
Dass der Sport in manchem anders als die Arbeit sein muss, um nach Feierabend attraktiv zu sein, zeigt sich schon daran, dass bei der populärsten Sportart, dem Fußballsport, der Ball mit dem Fuß bewegt wird, obwohl es an sich näher liegen würde, ihn mit der Hand zu bewegen, weil er durch sie leichter zu beherrschen wäre. Die Berührung des Balles mit der Hand ist den Feldspielern während des Spieles auf dem Spielfeld nicht erlaubt, er darf von ihnen nur mit dem Fuß bewegt werden.
Die Hand, die während der Berufsarbeit ein Werkzeug hält oder Maschinen und technische Apparate bedient, wird nach der Arbeit beim Fußballsport mit einer Art Tabu versehen. Das schafft Distanz zu arbeitenden Händen. War der Fußballsport in seinen Anfängen besonders bei der Jugend der Oberschicht populär, weil er Distanz zur proletarischen Handarbeit ausdrückte? Und faszinierte er später vor allem die mit den Händen arbeitenden Massen unbewusst durch das Versprechen, Distanz zu ihrer leidvollen Arbeit zu schaffen?
Weil der Sport auch Elemente aufweist, die ihn in einen Gegensatz zu den typischen Formen der Arbeit bringen, wird von seinen Anhängern leicht seine Verwandtschaft mit der Arbeit übersehen. Dieser Täuschung unterliegen insbesondere diejenigen, die als Zuschauer nur Konsumenten des Fußballsports sind. Sie sehen im Stadion, wenn das Spiel in ihrem Sinn abläuft, wie die Athleten scheinbar mühelos den Ball in ihren Reihen "tanzen" lassen, raffinierte Pässe schlagen oder artistische Luftsprünge vollführen, die die Gesetze der Schwerkraft hinter sich zu lassen scheinen.
Dass diesen Fähigkeiten der Aktiven langjährige, oft ungeheuer qualvolle Dressurleistungen und den Körper mechanisierende monotone Zurichtungen zugrunde liegen, tritt den Zuschauern während des Wettkampfes meist kaum ins Bewusstsein. Die Zuschauer erleben das Spiel zumeist als wesentlich spontaner als es in Wirklichkeit ist, weil sie nicht zugegen sind, wenn im Training die Automatisierung der Körper erfolgt, die der Wettkampf zumeist eher scheinhaft als real hinter sich zu lassen erlaubt.
Das Fußballspiel gilt, wie sein Name im Deutschen ausgedrückt, als Spiel. Bei Festreden pflegten es seine Repräsentanten früher gern als solches einem Reich der Freiheit zuzuordnen, das den Zwängen der Arbeitswelt entronnen ist. Die enge psychologische Verknüpfung zwischen Sportspielen und Arbeit lässt sich hingegen deutlich machen, wenn man die psychoanalytische Theorie des Kinderspiels nutzt, die sich auch auf die Spiele der Erwachsenen übertragen lässt.
Die Aufarbeitung dieses Theorieansatzes lässt zugleich eine genauere Erklärung der Tatsache zu, dass sich Menschen nach Feierabend "freiwillig" Reglementierungen unterwerfen, die den belastenden Leistungsnormen der Arbeitswelt in Vielem verwandt sind. Dies Verfallensein an die Zwänge der Arbeit ist Ausdruck von unbewusst wirksamen psychischen Zwangsmechanismen, auf die die psychoanalytische Theorie des Kinderspiels Hinweise geben kann.
Sie betont, dass das Spiel der Kinder meist keineswegs schlicht ein freies, lustvolles Tun ist, diese werden zu diesem vielmehr innerlich zu weiten Teilen getrieben, um ihre Ängste und Traumata bewältigen zu können. Sie suchen mit Hilfe des Spiels das psychisch zu integrieren, was ihnen einen besonderen Eindruck gemacht hat und sie zu überwältigen droht.
Das Spiel der Kinder kann zu einer sehr zwanghaften Übung werden, in ihm kann es zu einer stereotypen Reproduktion des immer Gleichen kommen, die dem Ich der Kinder erlauben soll, unlustvolle Erfahrungen durch ihre vielfältige Reinszenierung unter Kontrolle zu bringen. Das Kind reproduziert aktiv, ohne unmittelbaren äußeren Zwang, was es vorher auf belastende Art passiv über sich ergehen lassen musste, um es ertragen zu lernen.
Ihre aktive Reproduktion soll dem Kind eine Art Gewöhnung an bedrohliche Affektlagen erlauben. Wenn es sich zum Beispiel dem ängstigenden Zahnarzt passiv ausgeliefert fühlte, spielt es nachher einen Zahnarzt; wenn es sich von Autos im Straßenverkehr bedroht fühlte, fantasiert es sich beim Spiel als Autofahrer, der seinen Wagen beherrscht.
Das Kind verfällt also beim Spiel einem Wiederholungszwang, der es dazu bestimmt, belastende Realitätseindrücke zu reproduzieren, um mit dem umgehen zu lernen. Diese zwanghaften Verdoppelungen sind aber, zumindest bei einem gesunden Kind, mit Elementen der Freiheit verknüpft, die es erlauben, sie unter Beibehaltung ihrer wesentlichen Elemente umzugestalten und dabei Passivität in Aktivität zu verwandeln.
Mit dem Zwang, der in das Spiel einfließt, müssen Gestaltungsmöglichkeiten verknüpft werden können, wenn es eine entlastende Funktion bei der Realitätsbewältigung erfüllen soll. Aktive Wiederholung von vorher eher passiv Erlittenem, verbunden mit der Möglichkeit, es durch eigene Gestaltungsmöglichkeiten auf entlastende Art umzustrukturieren, kennzeichnet das Kinderspiel.
Diese Feststellungen lassen sich tendenziell auf den Sport übertragen, um seine Beziehung zur Arbeit zu klären. Beim Sport werden aktiv belastende Elemente der Arbeit reproduziert, denen man sich in ihrer Sphäre ausgeliefert fühlte. Die leidvollen Arbeitserfahrungen, oder ihre Vorläufer in unlustvollen Schulerfahrungen, die in den Sport eingehen, werden dadurch erträglicher gemacht, dass sie in seiner Sphäre, unter der Nutzung von Gestaltungsmöglichkeiten, die die fremdbestimmte Arbeit nicht zulässt, in umstrukturierter Art und Weise bearbeitet werden können.
Der Sport verdoppelt also die Arbeit nicht einfach, er verdoppelt sie durch eine Übersetzung in seine bereichsspezifische Logik, die Elemente einer freieren Gestaltung offen lässt. Je unfreier die Arbeit wird, je mehr sie dem stummen Zwang der Ökonomie gehorchen muss, desto mehr müssen diese aber, ohne dass dies seine Akteure zu merken brauchen, dem Sport ausgetrieben werden. Den Spielen der Erwachsenen ist die Kreativität meistens abhanden gekommen, mit denen sich die Kinder in ihren Spielen noch gegen die Zumutungen der Realität zu wehren suchen.
Im folgenden Text wird die These vertreten, dass der Fußballsport einen sozialen Kitt für schlechte Verhältnisse zur Verfügung stellt, indem er sie in anderer Gestalt verdoppelt und zugleich Ersatzbefriedigungen für ein ungelebtes Leben unter ihnen zur Verfügung stellt. Die kollektive Identifikation der Sportanhänger mit ihren Stars stiftet einen fiktiven Zusammenhalt unter ihnen, welcher als fragwürdiger Ersatz für reale soziale Beziehungen und in ihnen erfahrene Solidarität Einfluss gewinnen kann.
Die Identifikation von Vielen mit der "eigenen" Mannschaft und ihren Stars schafft ein Erleben der Verbundenheit unter denen, die sich ansonsten im Alltag fremd bleiben. Die Atomisierung der Gesellschaft durch sich verstärkende Konkurrenz und Ausgrenzung, die zunehmende Anonymität des sozialen Getriebes und die Undurchschaubarkeit entfremdeter Verhältnisse erfahren eine Kompensation durch den emotional sehr stark besetzten Zusammenhalt, den die gemeinsame Fußballbegeisterung suggeriert.
Die Identifikation mit der Mannschaft, die den eigenen Wohnort repräsentiert, verschafft ein Gefühl der Verbundenheit mit einer Heimat, die es kaum noch gibt. Die Identifikation mit einer erfolgreichen Mannschaft erlaubt denen, die sonst in den Rivalitätskonflikten des Alltags zu den Verlierern gehören, die Feststellung: "Wir haben gewonnen!"
In der Welt kollektiver Fußballbegeisterung spielen Klassengegensätze oder auch Gegensätze zwischen den Geschlechtern und Generationen scheinbar kaum eine Rolle, alle scheinen durch die gemeinsame Begeisterung für ihre sportlichen Idole vereint. Diese Art von kollektiver Bindung wird dadurch erleichtert, dass der Fußballsport sich, im Unterschied zu anderen Sportarten, in allen sozialen Schichten tendenziell der gleichen Beliebtheit erfreut.
Auch verspricht er Talenten aus allen sozialen Schichten die gleiche Chance zum Erfolg, ein Versprechen, das in seinem Rahmen eher eingehalten wird als anderswo in der Konkurrenzgesellschaft. Zugleich ist er aber, entgegen seinem gleichmachenden Versprechen, den Gesetzen einer Klassengesellschaft unterworfen. Besonders aufgrund seiner wachsenden Kommerzialisierung ist der Fußballsport an die Interessen von Firmen und ihren wohlhabenden Eigentümern gefesselt.
Die Träger ökonomischer Macht bestimmen auch entscheidend, was im Sport geschieht, in den Führungsetagen der Vereine sind die unteren sozialen Schichten nicht repräsentiert. Obwohl sich immer mehr Frauen vor allem als Zuschauerinnen zum Fußballsport hingezogen fühlen, bestimmen auch sie nicht mit, wie er organisiert wird. Obwohl der Fußball fasst nur von Jüngeren gespielt wird, werden diese dabei von einer älteren Generation gelenkt und verwaltet. In einer Welt des Fußballs aber scheinen solche Widersprüche keine Rolle zu spielen, deshalb ist sie geeignet, sie zu verschleiern.
Die über Phantasmen vermittelte soziale Integration, die der Fußballsport anbietet, wird durch seine Verbindung mit den elektronischen Massenmedien verstärkt, die seit der Niederschrift meines Buches ungeheuer an Bedeutung gewonnen hat. Die mediale Inszenierung des Fußballsports, die eine besondere Nähe zu seinen Helden und ihren Erfolgen suggeriert, potenziert die Macht kollektiver Identifikationen, für die die bestehenden Machtverhältnisse gleichgültig zu sein scheinen.
Das Beispiel Italiens lässt besonders deutlich werden, dass das fatale Folgen haben kann. Die übermäßige emotionale Bindung der italienischen Massen an den Fußball und der manipulative Einfluss der elektronischen Medien, dessen man sich im Herrschaftsbereich Silvio Berlusconis zur Verschleierung von privaten Interessen bedient, gehen im heutigen Italien eine Verbindung ein, in der eine Misere der italienischen Gesellschaft zum Ausdruck kommt, die sie zugleich verhüllt.
Die bestehende, kapitalistisch geprägte Industriegesellschaft scheint heute ohne Alternative zu sein. Die grundlegende Kritik, die die Linke an ihr geübt hat, gilt als antiquiert oder wird kaum noch zur Kenntnis genommen. Das Leiden an Ungerechtigkeit, an sozialer Ausgrenzung und Isolierung, an der Verdinglichung XII des Humanen oder einer naturfernen Existenz ist aber mit dem Fehlen einer gesellschaftlichen Alternative nicht aufgehoben und weckt weiterhin Sehnsüchte nach Veränderung. Das Wünschen kann sich mit dem Bestehenden letztlich nie wirklich abfinden. Wenn die linken Kräfte oder die sozialen Bewegungen, die ihr Erbe antreten, keine intellektuell begründeten Alternativen zum Bestehenden anzubieten vermögen, in denen die Sehnsucht nach einem anderen Leben ihren Platz finden kann, muss die Kritik am Bestehenden notwendig irrationale Ausdrucksformen annehmen.
Wenn keine aufgeklärten gesellschaftlichen Alternativen präsentiert werden, mit denen sich Menschen identifizieren können, verfallen ihre auf das Soziale gerichteten Wünsche leicht kollektiven Formen des Fundamentalismus und Nationalismus oder einer kommerziell organisierten Scheinwelt, die die Wünsche nach Veränderung in regressiver, pervertierter Gestalt in sich aufnehmen. Die Linke hat die Aufgabe, über andere Formen der Vergesellschaftung nachzudenken, und sie, soweit als möglich, praktisch zu erproben. Wo sie dazu nicht in der Lage ist, muss sie die Hoffnung auf ein ereignisreicheres, intensiveres Leben und mehr erfahrbaren sozialen Zusammenhalt nicht zuletzt auch dem kommerziell organisierten Fußballsport überlassen, der für sie einen fragwürdigen Ersatz zur Verfügung stellt, der sich der Übermacht bestehender Verhältnisse fügt. Sport kann gesund sein und einer notwendigen entlastenden Zerstreuung dienen. Wo aber die im Bereich des Leistungssports organisierte Betriebsamkeit zum Lebensersatz wird, wo eine sportliche Pseudoaktivität eine wirkliche, Neues hervorbringende Praxis ersetzt und das historische Bewusstsein sich darauf reduziert, dass man weiß, in welcher Saison welche Mannschaft mit welchen Stars beim Fußballsport Erfolge erzielt hat, steht es schlimm um eine Gesellschaft.
Gerhard Vinnai, Bremen 2006
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