In den individuellen Strukturen der kleinbürgerlichen Massen fallen nationale und familiäre Bindungen zusammen. Diese Bindungen werden besonders durch einen Prozess verstärkt, der nicht nur parallel zu ihnen verläuft, sondern sich geradezu von ihnen ableitet. Aus der Sicht der Massen ist der nationalistische Führer die Personifizierung der Nation. Nur insoweit dieser Führer die Nation tatsächlich personifiziert, im Einklang mit den nationalen Gefühlen der Massen, entsteht eine persönliche Bindung zu ihm. Insoweit er es versteht, emotionale familiäre Bindungen in den Individuen der Massen zu wecken, ist er zugleich eine autoritäre Vaterfigur.
Er zieht alle emotionalen Einstellungen an, die einst dem strengen, aber auch beschützenden und eindrucksvollen Vater (eindrucksvoll in den Augen des Kindes) zugedacht waren. In Diskussionen mit nationalsozialistischen Enthusiasten über die Unhaltbarkeit und Widersprüchlichkeit des NSDAP-Programms hörte man oft die Aussage, Hitler habe das alles viel besser verstanden - „er würde schon alles hinkriegen“. Hier kommt das kindliche Bedürfnis nach der Schutzhaltung des Vaters klar zum Ausdruck. In der sozialen Realität ist es dieses Schutzbedürfnis der Volksmassen, das dem Diktator ermöglicht, „alles zu regeln“. Diese Haltung der Volksmassen verhindert die gesellschaftliche Selbstverwaltung, d. h. rationale Unabhängigkeit und Zusammenarbeit. Keine echte Demokratie kann und sollte darauf aufbauen.
Noch wesentlicher ist jedoch die Identifikation der Massenindividuen mit dem „Führer“. Je hilfloser das „Massenindividuum“ durch seine Erziehung geworden ist, desto ausgeprägter ist seine Identifikation mit dem Führer, und desto mehr wird das kindliche Schutzbedürfnis in Form eines Gefühls der Verbundenheit mit dem Führer getarnt. Diese Neigung zur Identifikation ist die psychologische Grundlage des nationalen Narzissmus, d. h. des Selbstvertrauens, das der einzelne Mensch aus der „Größe der Nation“ schöpft.
Der reaktionäre Kleinbürger nimmt sich im Führer, im autoritären Staat wahr. Aufgrund dieser Identifikation fühlt er sich als Verteidiger des ‚nationalen Erbes‘, der ‚Nation‘, was ihn jedoch nicht daran hindert, ebenfalls aufgrund dieser Identifikation ‚die Massen‘ zu verachten und ihnen gleichzeitig als Individuum gegenüberzutreten. Das Elend seiner materiellen und sexuellen Lage wird von der erhabenen Vorstellung, einer Herrenrasse anzugehören und einen brillanten Führer zu haben, so überschattet, dass er mit der Zeit nicht mehr erkennt, wie sehr er zu einer Position unbedeutender, blinder Unterwürfigkeit herabgesunken ist.
Der Arbeiter, der sich seiner Fähigkeiten bewusst ist – kurz gesagt, der sich von seiner unterwürfigen Struktur befreit hat, der sich mit seiner Arbeit und nicht mit dem Führer, mit den internationalen Arbeitermassen und nicht mit der nationalen Heimat identifiziert – stellt das Gegenteil davon dar. Er fühlt sich als Führer, nicht aufgrund seiner Identifikation mit dem Führer, sondern aufgrund seines Bewusstseins, Arbeit zu leisten, die für die Existenz der Gesellschaft lebensnotwendig ist.
Welche emotionalen Kräfte sind hier am Werk? Das ist nicht schwer zu beantworten. Die Emotionen, durch die dieser grundlegend andere massenpsychologische Typ motiviert wird, sind dieselben, die man bei den Nationalisten findet. Nur der Inhalt dessen, was die Emotionen erregt, ist anders. Das Bedürfnis nach Identifikation ist dasselbe, aber die Objekte der Identifikation sind anders, nämlich die Arbeitskollegen und nicht der Führer, die eigene Arbeit und keine Illusion, die Arbeiter der Erde und nicht die Familie.
Kurz gesagt, das internationale Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten ist der Mystik und dem Nationalismus entgegengesetzt. Aber das bedeutet sicherlich nicht, dass das Selbstvertrauen des befreiten Arbeiters vernachlässigt wird; es ist der reaktionäre Mensch, der in Krisenzeiten zu schwärmen beginnt, dass „das Gemeinwohl vor dem persönlichen Wohl steht“. Es bedeutet lediglich, dass das Selbstvertrauen des befreiten Arbeiters aus dem Bewusstsein seiner Fähigkeiten stammt.
In den letzten fünfzehn Jahren wurden wir mit einer Tatsache konfrontiert, die schwer zu begreifen ist: Ökonomisch ist die Gesellschaft in scharf abgegrenzte soziale Klassen und Berufe gespalten. Nach dem rein ökonomischen Standpunkt leitet sich die soziale Ideologie aus der spezifischen sozialen Situation ab. Daraus folgt, dass die spezifische Ideologie einer Klasse mehr oder weniger der sozioökonomischen Situation dieser Klasse entsprechen müsste.
Entsprechend ihrer kollektiven Arbeitsgewohnheiten müssten die Industriearbeiter ein stärkeres Kollektivgefühl entwickeln, während die Kleinunternehmer einen stärkeren Individualismus entwickeln müssten. Die Angestellten großer Unternehmen müssten ein dem der Industriearbeiter ähnliches Kollektivgefühl haben. Aber wir haben bereits gesehen, dass psychische Struktur und soziale Situation selten zusammenfallen. Wir unterscheiden zwischen dem verantwortlichen Arbeiter, der sich seiner Fähigkeiten bewusst ist, und dem mystisch-nationalistischen reaktionären Subjekt. Wir begegnen beiden Typen in jeder sozialen und beruflichen Klasse. Es gibt Millionen reaktionärer Industriearbeiter und ebenso viele Lehrer und Ärzte, die sich ihrer Fähigkeiten bewusst sind und für die Sache der Freiheit eintreten. Es besteht also kein einfacher mechanistischer Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Charakterstruktur.
Die soziale Lage ist nur die äußere Bedingung, die auf den ideologischen Prozess im Individuum einwirkt. Es gilt nun, die instinktiven Triebe zu untersuchen, durch die die verschiedenen sozialen Einflüsse die ausschließliche Kontrolle über die Emotionen erlangen. Zunächst einmal ist so viel klar: Der Hunger gehört nicht dazu, jedenfalls ist er nicht der entscheidende Faktor. Wäre er es, dann wäre auf die Weltkrise von 1929-33 die internationale Revolution gefolgt. Das ist eine vernünftige Aussage, so gefährlich sie auch für antiquierte, rein ökonomische Gesichtspunkte sein mag.
Wenn Psychoanalytiker, die in der Soziologie nicht bewandert sind, die soziale Revolution als „infantile Revolte gegen den Vater“ zu erklären versuchen, haben sie den „Revolutionär“ im Sinn, der aus intellektuellen Kreisen kommt. Das ist dort tatsächlich der Fall. Aber es trifft nicht auf die Industriearbeiter zu. Die väterliche Unterdrückung der Kinder ist bei der Arbeiterklasse nicht weniger streng, ja manchmal sogar brutaler als bei der unteren Mittelklasse.
Darum geht es nicht. Was diese beiden Klassen spezifisch unterscheidet, liegt in ihrer Produktionsweise und der daraus resultierenden Einstellung zur Sexualität. Der Punkt ist: Auch bei den Industriearbeitern wird die Sexualität von den Eltern unterdrückt. Aber die Widersprüche, denen die Kinder der Industriearbeiter ausgesetzt sind, gibt es bei der unteren Mittelklasse nicht. Bei der unteren Mittelklasse wird nur die Sexualität unterdrückt.
Die sexuelle Aktivität dieser Klasse ist ein reiner Ausdruck des Widerspruchs zwischen Sexualtrieb und sexueller Hemmung. Dies ist bei den Industriearbeitern nicht der Fall. Die Industriearbeiter haben neben ihrer moralistischen Ideologie ihre eigenen - mal mehr, mal weniger ausgeprägten - sexuellen Ansichten, die der moralistischen Ideologie diametral entgegengesetzt sind. Hinzu kommen die Einflüsse ihrer Lebensumstände und ihrer engen Verbindung bei der Arbeit. All dies widerspricht ihrer moralistischen Sexualideologie.
Demnach unterscheidet sich der durchschnittliche Industriearbeiter vom durchschnittlichen Arbeiter der unteren Mittelschicht durch seine offene und ungehemmte Einstellung zur Sexualität, ganz gleich, wie verworren und konservativ er sonst auch sein mag. Er ist sexualökonomischen Ansichten ungleich zugänglicher als der typische Arbeiter der unteren Mittelschicht. Und gerade das Fehlen jener Einstellungen, die für die nationalsozialistische und klerikale Ideologie zentral sind, macht ihn zugänglicher: die Identifikation mit der autoritären Staatsmacht, mit dem „obersten Führer“, mit der Nation. Auch dies ist ein Beweis dafür, dass die Grundelemente der nationalsozialistischen Ideologie sexualökonomischen Ursprungs sind.
Aufgrund seiner individualistischen Wirtschaftsweise und der extremen Isolation seiner familiären Situation ist der Kleinbauer der Ideologie der politischen Reaktion sehr zugänglich. Dies ist der Grund für die Kluft zwischen sozialer Situation und Ideologie. Geprägt durch die strengste Praxis des Patriarchats und der ihm entsprechenden Moral, entwickelt der Kleinbauer dennoch natürliche – wenn auch verzerrte – Formen in seiner Sexualität. Ebenso wie die Industriearbeiter – im Gegensatz zu den Arbeitern der unteren Mittelklasse – beginnen die Bauernjugendlichen schon in jungen Jahren Geschlechtsverkehr zu haben; aufgrund der strengen patriarchalischen Erziehung ist die Jugend jedoch sexuell sehr gestört oder sogar brutal; die Sexualität wird im Geheimen praktiziert; sexuelle Frigidität ist bei Mädchen die Regel; sexueller Mord und brutale Eifersucht sowie Versklavung der Frauen sind typische sexuelle Erscheinungen unter der Bauernschaft. Hysterie ist nirgends so weit verbreitet wie auf dem Land. Die patriarchalische Ehe ist das Endziel der ländlichen Erziehung, das von der ländlichen Wirtschaft streng diktiert wird.
Unter den Industriearbeitern hat in den letzten Jahrzehnten ein ideologischer Prozess begonnen, Gestalt anzunehmen. Die materiellen Erscheinungsformen dieses Prozesses sind am deutlichsten in der reinen Kultur der Arbeiteraristokratie zu erkennen, aber sie sind auch unter dem durchschnittlichen Industriearbeiter zu beobachten. Die Industriearbeiter des zwanzigsten Jahrhunderts sind nicht das Proletariat des neunzehnten Jahrhunderts zu Karl Marx‘ Zeiten. Sie haben zu einem großen Teil die Konventionen und Ansichten der bürgerlichen Gesellschaftsschichten übernommen.
Natürlich hat die formelle bürgerliche Demokratie die wirtschaftlichen Unterschiede ebenso wenig beseitigt wie die Rassenvorurteile. Doch die sozialen Tendenzen, die in ihrem Bereich an Boden gewinnen, haben die strukturellen und ideologischen Grenzen zwischen den verschiedenen sozialen Klassen verwischt. Die Industriearbeiter Englands, Amerikas, Skandinaviens und Deutschlands werden immer bürgerlicher. Um zu verstehen, wie der Faschismus die Arbeiterklasse infiltriert, muss man den Weg von der bürgerlichen Demokratie über das „Notstandsgesetz“ und die Suspendierung des Parlaments bis hin zur offenen faschistischen Diktatur zurückverfolgen.
13 Die Verbürgerlichung der Industriearbeiterschaft
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